Die deutsche Wiedervereinigung – Verfassungsgebot oder Lebenslüge?
03. Oktober 1990: Für die DDR war dieser Tag zugleich Ende des sozialistischen Systems und quasi ihr politischer „Untergang“. Für die Bundesrepublik erfüllte sich die durch das Grundgesetz vorgegebene Verpflichtung, die Einheit des Landes wiederherzustellen. Wie aber verhielt es sich mit diesem existenziellen Grundsatz in den Jahren vor der Wiedervereinigung? Wie ernst nahmen die Politiker in Westdeutschland damals diesen verfassungsmäßigen Auftrag wirklich? Gab es überhaupt ein ernsthaftes Bestreben, oder wurde die Wiedervereinigung sogar bekämpft? Und warum gibt es für das wiedervereinigte Deutschland keine Verfassung (wie bei anderen souveränen Staaten), sondern nur ein Grundgesetz? Aus welchem Grund wurde die UNO-Feindstaatenklausel, die sich insbesondere gegen Deutschland und Japan richtet, auch 65 Jahre nach dem 2. Weltkrieg noch nicht aus der UN-Charta gestrichen?
Zu diesem Thema habe ich in den 90er Jahren im Ullstein Verlag einen Buchbeitrag geschrieben, den ich hier aufgrund des Jahrestages der „Wiedervereinigung“ gerne in veränderter und freierer Form veröffentliche. Ziel ist es, die heuchlerische Position der damaligen (und heutigen) Politiker offen zu legen. Insbesondere die Rolle des heutigen Außenministers ist exemplarisch für das damalige Verhalten von Spitzenpolitikern. Dazu mehr in der folgenden Abhandlung
Natürlich ist der 3. Oktober 1990 ein Glückstag für unser Land: Wer aber genau verfolgt hat, wie die Vereinigung Deutschlands zunächst boykottiert und – nachdem sie nicht mehr zu verhindern war – völlig herzlos organisiert wurde, erahnt, dass ein grundsätzliches Ziel noch lange nicht erreicht ist: Die Einheit der Nation.
Die Aufbruchstimmung des 9. November 1989, als die Menschen in Ost und West sich aufgrund eines natürlichen Zusammengehörigkeitsgefühls in die Arme fielen, ist verflogen. Dem Freudentaumel folgte die Ernüchterung; in den jungen Bundesländern sogar eine Renaissance der SED-Nachfolgepartei PDS. Obwohl die von der Bundesrepublik-West erbrachten Transferleistungen geschichtlich einmalig sind, und jeder Deutsche durch Entrichtung seines Solidarzuschlages einen persönlichen Beitrag zum Aufbau der jungen Länder beisteuert, gibt es in Deutschland ein „Ossi-Wessi-Problem“.
Wenn also grundsätzlich alles erforderliche zur Angleichung der wirtschaftlichen Verhältnisse getan wird, bleibt die Frage, warum die Politik emotional derartig versagt hat. Die Antwort liegt in den achtziger Jahren. In dieser Zeit hätten mit Beginn der Reformen Gorbatschows die Weichen für die Einheit Deutschlands gestellt werden müssen. Da aber kein operativer Ansatz hierfür entwickelt wurde, ist die bundesdeutsche Politik von der Wiedervereinigung überrascht worden. Der Blick von Bundeskanzler Kohl wird mir unvergessen bleiben, als er am Abend des 9. November bei seinem Staatsbesuch (ausgerechnet in Polen) von einem Journalisten gefragt wurde, ob es nun bald zur Wiedervereinigung käme. War es lediglich Phantasielosigkeit oder wollte das damalige (und somit auch jetzige) Establishment die Einheit nicht, und wenn ja, warum?
Lieber das halbe Deutschland ganz
Das Dilemma der bundesdeutschen Politik beruht auf der von Adenauer Anfang der Fünfziger Jahre forcierten und durchgesetzten Entscheidung für eine strikte Westbindung. Adenauer-Gegner unterstellten dem „Alten“, er habe lediglich seinen schon zu Weimarer Zeiten gehegten Wunsch nach einem eng mit Frankreich verbundenen Rheinbund-Deutschland durchsetzen wollen. Die reelle Bedrohung des Ostens war allerdings in der Nachkriegszeit so groß – man denke nur an die Berlin-Blockade und später den Korea-Krieg -, dass vieles für einen konsequenten Schutz der Bundesrepublik innerhalb des westlichen Bündnisses sprach. Das hieraus begründete Misstrauen den Sowjets gegenüber führte schließlich auch zur Ablehnung der Stalin-Note im Jahre 1952. „Lieber das halbe Deutschland ganz, als das ganze Deutschland neutral und von den Sowjets abhängig.“
Den Westalliierten war diese Einstellung nur Recht, zumal somit die feste Einbindung und damit Kontrolle Westdeutschlands in der Nato gewährleistet war. Folglich konnten nationale Politiker wie Thomas Dehler (F.D.P.) und Jakob Kaiser (CDU) mit der Forderung nach einer schnellen Wiedervereinigung keinen Erfolg haben. Die damalige Ostzone hatte man vorerst abgeschrieben. Hierin ist die passive Haltung begründet, die der Westen bei der Niederschlagung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 und beim Mauerbau am 13. August 1961 an den Tag legte.
Die Sonntagsrede
In dieser Zeit wurde die Sonntagsrede geboren. Die wahre und – aus Sicht der „Realpolitiker“ – aussichtslose Lage der Nation durfte nicht ausgesprochen werden. Alle relevanten Parteien sprachen sogar von der Ungerechtigkeit der Dreiteilung Deutschlands, ohne hiergegen nennenswerte Anstrengungen unternommen zu haben. Von diesen inneren Konflikten wurde die westdeutsche Politik erst mit Beginn der Ära Brandt/Scheel erlöst. Von nun an ging es nicht mehr um die Wiedervereinigung, sondern um friedliche Koexistenz oder allenfalls um die Einheit der Nation. Gebetsmühlenartig wurde verlautbart, dass die Wiedervereinigung nicht auf der Tagesordnung der Weltpolitik stünde. Man übernahm sogar die Terminologie des Ostens, wonach Einheitsbefürworter als kalte Krieger oder Ewiggestrige bezeichnet wurden. Wer nun noch weiter offiziell für die Wiedervereinigung eintrat, war nicht nur ein Gegner der Ost-West-Verständigung, sondern eine Bedrohung für den Frieden.
An diesem Zustand änderte sich auch nach dem Regierungswechsel im Oktober 1982 nicht viel. Zwar ging es in erster Linie nicht mehr darum, den Osten von der Thematik Deutschland zu verschonen, aber nun wurde verstärkt wieder Rücksicht auf westliche Empfindsamkeiten genommen. Der Einfluss der Unionspolitiker, die sich in Ansätzen für eine operative, also konkrete, Wiedervereinigungspolitik einsetzten, war gering. Zu ihnen gehörten Heinrich Windelen, Jürgen Todenhöfer aber auch Alfred Dregger. Letzterem ist vorzuwerfen, dass er -trotz seines in der CDU-Fraktion vorhandenen Rückhalts – der strikten Westeuropapolitik Helmut Kohls nicht offensiv genug begegnet ist. Kohls Traum vom vereinten Europa war in Wirklichkeit immer auf ein im Kern aus Frankreich und Westdeutschland bestehenden Westeuropa gerichtet.
Die Staaten „Kerneuropas“ sollten so eng wie möglich zusammenarbeiten, mit dem Endziel der Bildung eines Bundesstaates „Europa“. Diese Konzeption hätte die Wiedervereinigung Deutschlands nahezu unmöglich gemacht, denn jedem Mitgliedsstaat hätte diesbezüglich ein Vetorecht zugestanden. Um die Nationalen zu vertrösten schuf man daher die Formel von der „Anziehungskraft der EG“. Hiernach würde den Ostblockstaaten (also auch der DDR) zur Aufrechterhaltung ihrer Wettbewerbsfähigkeit in Zukunft nichts anderes übrig bleiben, als sich dem Westen zu öffnen. Diese Entwicklung würde dann zwangsläufig auch zu einem Aneinanderrücken beider deutscher Staaten führen.
Unter Berücksichtigung der heute noch vorherrschenden „closed shop“-Mentalität der Westeuropäer, wird die Unehrlichkeit der These von der Anziehungskraft offenbar. Es ging den Westeuropäern nie um den Osten, sondern vielmehr darum, ein Gegengewicht zu den Märkten in den USA und Japan zu schaffen. Die Konkurrenzfähigkeit des EG-Binnenmarktes wäre durch die Aufnahme verarmter mittel- und osteuropäischer Staaten nicht mehr gewährleistet gewesen. Im Gegenteil, der Zusammenbruch des RGW, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit der Ostblockstaaten, wäre und wird deshalb als Behinderung es kerneuropäischen Einigungsprozesses angesehen. Ganz offen wird versucht, Europa in verschiedene Ringe einzuteilen.
Hierfür steht der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Wolfgang Schäuble, der neue Alibi-Rechte der Christdemokraten. Nach seiner Vorstellung befinden sich im inneren Ring die leistungsstarken Länder um Deutschland und Frankreich, während Polen, Tschechien, Ungarn und andere Länder des ehemaligen Ostblocks an der Peripherie erscheinen. Russland, in den vergangenen Jahrzehnten ein nicht ganz unbedeutendes Land, bleibt als Bittsteller vor der Tür des sogenannten europäischen Hauses. In dieser Denkweise liegt das eigentliche Übel der verkorksten Deutschlandpolitik der achtziger Jahre. Der „europäische“ Einigungsprozess sollte sich ungestört von äußeren Einflüssen entwickeln. Es wurde daher ganz offiziell alles unternommen, den Osten zu stabilisieren. So kam es schließlich zu der vorher nicht vorstellbaren Konstellation, dass ausgerechnet Franz-Josef Strauß -in der DDR das Synonym für „kalter Krieger“ – einen Milliardenkredit einfädelte, der dem Arbeiter- und Bauernstaat aus den gröbsten Schwierigkeiten heraushelfen sollte. Heute wissen wir, dass dem Land zwischen Elbe und Oder auch mit einer Schenkung in Höhe des hundertfachen Betrages kaum mehr zu helfen gewesen sein dürfte.
Die Versuche des Westens, den ökonomischen Niedergang der DDR aufzuhalten, zeigen zumindest, dass führende Politiker der Bundesrepublik die Situation im östlicheren Teil Deutschlands erahnten oder gar kannten. Schlüsse für eine operative Wiedervereinigungspolitik wurden aber im Hinblick auf den „europäischen“ Einigungsprozess daraus nicht gezogen.
Gorbatschow und die Wende
Spätestens aber mit dem Amtsantritt Gorbatschows hätten diese Möglichkeiten erkannt werden müssen. Glasnost und Perestroika bedeuteten von Anfang an das Eingeständnis des Ostens, dass die Planwirtschaft gescheitert war. Dies galt auch für die DDR, den immer treuen Satelliten der Sowjetunion, die sich nun zum ersten Mal in ihrer Geschichte vom großen Bruder emanzipierte. Das extremste diesbezügliche Signal sendete das DDRStaatsratsmitglied Kurt (Tapeten-) Hager, als er den sowjetischen Reformprozess als Tapezierungsaktion des Nachbarn abkanzelte, die man nicht unbedingt nachahmen müsse.
1987 war das Verhältnis der DDR zu seinem Bruderland UdSSR bereits so weit abgekühlt, dass aus Moskau immer mehr zweideutige Äußerungen in punkto Deutsche Frage zu hören waren. Von nun an wurde auch in der Bundesrepublik das Thema Wiedervereinigung offensiver diskutiert.
Nach offizieller Darstellung war bekannt, dass der Schlüssel für die Wiedervereinigung in Moskau lag. Ein Nachgeben der Sowjets in dieser Frage war demzufolge gleichbedeutend mit der Wiederherstellung der Einheit, zumal die mit der Bundesrepublik verbündeten Alliierten oft erklärt hatten, dass sie natürlich das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen achten würden. Die entscheidenden Verhinderungsargumente glitten den Konstrukteuren eines EU-Europas somit aus der Hand: Es gab weder „böse Russen“, noch konnte die Wiedervereinigung Deutschlands zu einer Destabilisierung des militärischen Gleichgewichts führen, da sie Teil des gesamteuropäischen Einigungsprozesses wäre.
Ähnlich wie in der DDR, deren Existenz von der Zweistaatlichkeit abhing, gab es auch in Westdeutschland Kräfte, die sich gegen die drohende Veränderung des Status quo mit Vehemenz wehrten. Diesbezüglich bestand eine Interessensüberschneidung zwischen den „Europäern“ und den DDR- „Betonköpfen“. Die einen wollten sehnlichst an der Macht bleiben und die anderen hatten den Osten für ihre wirtschaftlichen Ziele nicht auf dem Plan. Man hatte sich arrangiert im geteilten Deutschland.
Hierin liegt der eigentliche Grund für die aggressive Bekämpfung derjenigen, die sich aktiv für eine operative Wiedervereinigungspolitik einsetzten.
Neben den Verhinderern gab es im Westen aber Wiedervereinigungsbefürworter, die letztendlich nur der Mut verließ, weil sie die Möglichkeiten nicht abschätzen konnten, die sich mit der Politik Gorbatschows eröffneten. Selbst die Bild-Zeitung, die neben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung immer für eine Wiedervereinigung eintrat, verzichtete noch im Sommer 1989 darauf, die Bezeichnung DDR in Gänsefüßchen zu setzen: Eine letzte (harmlose) Fehleinschätzung noch kurz vor dem Zusammenbruch der DDR.
Doch bis zum 9. November 1989 und noch einige Zeit danach wurden diejenigen beschimpft, herabgewürdigt und lächerlich gemacht, die nach Gorbatschow die Wiedervereinigung Deutschlands für absehbar hielten.
Meine persönlichen Erfahrungen in der FDP
Auch ich war ein Opfer entsprechender Anfeindungen. Mehr als die argumentative Gegenwehr, fürchtete ich jedoch die Gleichgültigkeit der Menschen in Westdeutschland. Diese bekam ich in den entscheidenden Jahren zwischen 1985 und 1990 in Bonn zu spüren. Während meines Studiums an der dortigen Universität stieß ich bei meiner politischen Arbeit oft auf ratloses Entsetzen, wenn ich die Diskussion zum Thema Wiedervereinigung eröffnete. Meine Kommilitonen wussten zwar sehr viel über entfernte Länder, doch Städtenamen wie Rostock, Dresden und Cottbus klangen ihnen fremd oder gar exotisch.
Mein damaliger Chef, der Abgeordnete Gerhard Rudolf Baum, gebürtiger Dresdner und 1986 immerhin noch stellvertretender Bundesvorsitzender der F.D.P., gab mir einen sehr pragmatischen Tipp: „Herr Roscher, mit der Deutschlandpolitik können sie keinen Blumentopf gewinnen.“ Für Baum war ich nur wenige Monate tätig. Noch in dieser Zeit wurde ich in die Arbeitsgruppe Deutschlandpolitik der F.D.P.- Bundestagsfraktion aufgenommen. Unter Leitung des Abgeordneten Uwe Ronneburger trafen sich hier Abgeordnete der F.D.P. sowie höhere Beamte, die den Liberalen nahestanden, zu einem Informationsaustausch.
Auf der Tagesordnung standen neben konkreten Projekten, wie dem deutsch-deutschen Kulturabkommen, auch Fragen der Vertiefung des innerdeutschen Dialogs. Seine Sternstunde hätte dieser Kreis erleben können, als aus seiner Mitte im Frühjahr 1988 ein deutschlandpolitisches Programm entwickelt werden sollte. Zuvor hatte die CDU ein diesbezügliches Papier ohne eindeutige Zielbestimmung „Wiedervereinigung“ veröffentlicht („Unsere Verantwortung in der Welt. Christlich-demokratische Perspektiven zur Außen-, Sicherheits-, Europa- und Deutschlandpoltik“). Nun lag es in unserer Hand deutschlandpolitisch die Initiative zu ergreifen. Hans-Günter Hoppe, der Berliner F.D.P.- Abgeordnete in der Arbeitsgruppe und ohne Zweifel ein liberaler Patriot, wollte dem „perspektivlosen und resignativen“ Papier der Union etwas entgegensetzen. Deshalb wurde im kleineren Kreis ein Programmvorschlag erarbeitet, der in Richtung einer operativen Wiedervereinigungspolitik gezielt hätte. Hierfür hatte sich insbesondere der damalige Präsident des Gesamtdeutschen Instituts, Detlev Kühn, ausgesprochen. Der frühere F.D.P.-Kreisvorsitzende von Bonn war einer der ganz wenigen unermüdlichen Kämpfer für die Einheit innerhalb seiner Partei, wodurch aber sein dortiger Beliebtheitsgrad nicht sonderlich gesteigert wurde. Kühn griff Gedanken des CDU-Abgeordneten Friedmann aus dem Jahre 1986 auf. Der Haushaltsexperte hatte errechnet, dass die beim Gipfeltreffen in Reykjavik in Aussicht genommene Null-Lösung bei atomaren Trägerwaffen zu einer Verdoppelung der Verteidigungsausgaben im konventionellen Bereich führen müsse, um ein Gleichgewicht zur militärischen Stärke der Sowjetunion herzustellen, Da solche Summen aber nicht aufzubringen seien, müsse nach politischen Lösungen für die Beseitigung der Spannungen gesucht werden. Friedmann erkannte dabei die Teilung Deutschlands als wichtigste Spannungsursache in Mitteleuropa und schlug vor, dass der Bundeskanzler bei Reagan und Gorbatschow in Sachen Wiedervereinigung aktiv werden solle. Obwohl der CDUAbgeordnete in diesem Zusammenhang das Tabuwort „Neutralität“ nicht erwähnte, wurde er nach Unterbreitung seines Vorschlages innerhalb der CDU-Fraktion geschnitten und isoliert.
Der fast naiv klingende Ansatz Friedmanns wurde im ersten Entwurf der F.D.P.-Arbeitsgruppe aufgenommen und vertieft. Zu den Kernaussagen gehörten sinngemäß: „Die Einheit Europas kann sich nicht um Deutschland herum entwickeln. Die Überwindung der Teilung Deutschlands ist daher ein wichtiger Beitrag zur europäischen Einigung. Hierbei sind die Zusammenhänge zwischen Deutschland- und Sicherheitspolitik zu berücksichtigen. Es liegt im deutschen Interesse, zu einem Abbau der Blockkonfrontation zwischen Nato und Warschauer Pakt beizutragen. Bei der Erarbeitung entsprechender Alternativen darf es keine Denkverbote geben.“
Diese Thesen waren den Anhängern des vereinten Westeuropa zu initiativ. Was sollten denn unsere europäischen Nachbarn von uns denken, wenn wir sie – ohne vorher zu fragen- mit der Wiedervereinigung konfrontieren würden? Es folgte im F.D.P.-Arbeitskreis eine rege Diskussion zwischen Wiedervereinigungsbefürwortern und Bedenkenträgern. Letztere waren hohe Beamte des Auswärtigen Amtes und fungierten als Sprachrohr Genschers, der somit immer zugegen war.
Um sich gegen diese Kräfte durchsetzen zu können, bat Detlev Kühn den Kandidaten für den Bundesvorsitz der F.D.P., Otto Graf Lambsdorff um Unterstützung. Lambsdorff hatte sich am 14. Mai 1987 im Bonner General-Anzeiger zu Spekulationen über eine bevorstehende Wiedervereinigung geäußert. Er reagierte damit auf eine zwei Tage zuvor erschienene Meldung der Bild-Zeitung: „Gerücht in Bonn. Bietet Gorbatschow Wiedervereinigung an?“ Ein Bonner Staatssekretär wurde hierin mit den Worten zitiert, „Wenn er (Gorbatschow) eine solche Offerte wirklich auf den Tisch legt, wird er uns ganz schön aufmischen“. Der F.D.P.-Vorsitzende in spe ließ gegenüber dem General-Anzeiger nicht den geringsten Zweifel an seiner positiven Einstellung zur Wiedervereinigung. Graf Lambsdorff ging sogar so weit, der Einheit Deutschlands den Vorrang gegenüber der Zugehörigkeit der Bundesrepublik zur Nato einzuräumen, da eine Vereinigung, nach seiner Ansicht, ansonsten nur schwer zu erreichen sei.
Ein halbes Jahr nach dieser Äußerung wollte Lambsdorff nichts mehr von seinem Vorstoß wissen. Seine Unterstützung hätte uns in der Arbeitsgruppe Deutschlandpolitik sicherlich weitergeholfen, doch möglicherweise hätte sie ihm auch auf dem Weg zum Parteivorsitz geschadet.
Am Ende wurde dem Arbeitskreis ein Papier aus der Fraktion zur Abstimmung vorgelegt, das die deutliche Handschrift des Auswärtigen Amtes trug, also aus dem alle Formulierungen entfernt waren, die auf eine konkrete Wiedervereinigungspolitik hätten abzielen können. Die resignative Zustimmung Ronneburgers beendete den hoffnungsvollen Ansatz.
Einen solchen versuchte im übrigen auch der deutschlandpolitische Bundesarbeitskreis der Jungen Liberalen, der F.D.P.-Jugendorganisation, dessen Leitung mir seit 1987 anvertraut war. Dieses Amt übertrug mir der damalige Bundesvorsitzende der „JuLis“, Guido Westerwelle. Seine Gunst hatte ich erworben, nachdem ich im Auftrag der Jungen Liberalen auf höchster Ebene Kontakte zur FDJ, der offiziellen Jugendorganisation in der DDR, hergestellt hatte. Meine Bemühungen bedeuteten für die Jungliberalen und vor allem für Guido Westerwelle eine gute Presse und das Wohlwollen bestimmter „Realpolitiker“. Auch ich profitierte, denn ich konnte meine Erfahrungen aus den Vorgesprächen mit den Mitgliedern des Zentralrates der FDJ in die Programmatik meines Bundesarbeitskreises mit einfließen lassen. Es mag überraschen, aber die merkwürdige Reaktion verschiedener hoher FDJ-Funktionäre auf meine „Wiedervereinigungs-Provokationen“ bestätigte in mir den Verdacht, dass es mit der DDR zu Ende ging. Ich hörte nicht die übliche aggressiv ablehnende Haltung zur Deutschen Frage, sondern mir wurde dezidiert vorgetragen, warum eine Konföderation denkbar, ja, sogar wünschenswert sei. Das Modell der Konföderation war mir sehr wohl bekannt: Der vom ehemaligen CDU-Fraktionsreferenten Dr. Harald Rüddenklau geleitete Neue Deutsche Nationalverein, der sich wissenschaftlich mit Chancen einer raschen Wiedervereinigung befasste, hatte mir die Perspektive der Konföderation beider deutscher Staaten nähergebracht. Im Nationalverein war man nach dem Rücktritt Markus Wolfs als stellvertretender Stasi-Chef, und aufgrund der Äußerungen verschiedener Gorbatschow-Berater (vor allem Daschitschew und Portugalow) zu der Überzeugung gelangt, dass es unter Leitung Wolfs eine fortschrittliche Riege sowohl in der SED als auch in der Staatssicherheit gab, die an eine Neugestaltung der DDR nach Gorbatschowschem Muster dachte. Hierbei wolle sich die zweite Ebene des Staates in die neue Zeit hinüberretten und durch eine Konföderation mit der Bundesrepublik zugleich die wirtschaftliche Basis des Landes sichern. Egal, wie realistisch diese „Hoffnungen“ im Hinblick auf die starre und senile Führungsclique um Erich Honecker auch waren, jedenfalls schien der letzte Vorhang des DDR-Theaters bald zu fallen.
1987 stand für mich fest: Die deutsche Wiedervereinigung ist kein frommer Wunsch mehr, sondern sie steht unmittelbar bevor. Noch dazu beflügelt durch Wissenschaftler, wie Professor Wolfgang Seyffert aus Kiel sowie von hohen Militärs, wie dem ehemaligen stellvertretenden Nato-Oberbefehlshaber in Europa, General a.D. Dr. Günther Kiessling, die in ihren Publikationen zum gleichen Ergebnis kamen, setzte ich mich energischer denn je, auch innerhalb der Jungen Liberalen, für eine zügige operative Wiedervereinigungspolitik ein. Zum Glück stieß ich bei den vielen Mitgliedern des Bundesarbeitskreises Deutschlandpolitik auf offene Ohren und auch auf ein offenes Herz. Schnell erarbeiteten wir Thesen, die der sich abzeichnenden Lage in Deutschland endlich gerecht wurden. Im Oktober 1988 wurde ich dann von einer kleineren Verbandszeitung (Mitteldeutscher Kurier) nach den deutschlandpolitischen Vorstellungen der Jungen Liberalen befragt. Während die mir in der Zeitung gegenübergestellte Dame der Jungen Union nicht über das Stadium von Zeltlagern mit der FDJ hinauskam, waren die jungliberalen Forderungen nach einer Wiedervereinigung als gesamteuropäischem Sicherheitskonzept doch von etwas anderem Gewicht. Dies veranlasste schließlich die Frankfurter Allgemeine Zeitung, ausführlich über die Diskrepanz der deutschlandpolitischen Zielsetzungen bei den Jugendorganisationen von CDU und F.D.P. zu berichten. In dem Artikel von Friedrich Karl Fromme wurden die Positionen der Jungen Liberalen sehr wohlwollend und an so exponierter Stelle behandelt, dass der kleine Verband der „Julis“ sich eigentlich nur freuen konnte. Hier irrte ich gewaltig, denn auf Veranlassung von Guido Westerwelle wurde ich noch in der Woche nach Veröffentlichung des FAZArtikels als Bundesarbeitskreisleiter entlassen. Auch Graf Lambsdorff, den ich in diesen Tagen auf den Vorfall ansprach, wollte mir nicht helfen, sondern nannte die deutschlandpolitischen Thesen „Spinnereien“, obwohl sie im Kern mit den oben bereits erwähnten Äußerungen Lambsdorffs übereinstimmten. Mittlerweile war Graf Lambsdorff aber Parteivorsitzender und wollte endgültig nicht mehr mit der für ihn gefährlichen und unpopulären Wiedervereinigungsfrage konfrontiert werden. Westerwelle, zum Generalsekretär der gesamtdeutschen F.D.P. aufgerückt, gab für sein damaliges Verhalten formale Gründe an. Ein Bundesarbeitskreisleiter sei nicht zu öffentlichen Stellungnahmen befugt gewesen. – Wie dem auch sei, was einem bleibt, ist die Genugtuung, Recht behalten zu haben.
Obwohl die von mir geschilderten Begebenheiten nur meine Erfahrungen widerspiegeln, so stehen sie jedoch als typisches Exempel für den früheren Umgang mit dem Thema Wiedervereinigung. Es ist daher nicht nur mein alleiniger Eindruck, dass das westdeutsche Establishment eine Wiedervereinigung nicht wirklich gewollt hat. Dass einzelne führende Politiker möglicherweise anders dachten, lässt sich zwar nicht ausschließen, danach gehandelt haben sie jedoch nicht.
Selbst Helmut Kohl hatte am Abend des 9. November 1989, als er den Journalisten in Warschau ratlos gegenüberstand, kein Zukunftskonzept für Deutschland als Ganzem parat. Sein Verdienst ist es jedoch, als „Einäugiger unter den Blinden“ mit seinem 10-Punkte-Plan den ersten Schritt in Richtung Einheit gegangen zu sein. Hierzu hatte ihn allerdings der bereits erwähnte Gorbatschow-Berater Nikolai Portugalow gedrängt, der nach dem Fall der Mauer im Kanzleramt erschien und den Bundeskanzler bat, Konzepte für eine Wiedervereinigung vorzulegen. Portugalow, ein großer Freund der Deutschen, war offiziell gar nicht befugt von „Wiedervereinigung“ zu sprechen. Er wußte aber, was er auslösen würde und handelte entsprechend. Noch ein halbes Jahr zuvor, beim Besuch Gorbatschows in Bonn, als von offizieller sowjetischer Seite bereits von einer möglichen Einheit gesprochen wurde, wiegelte Helmut Kohl noch ab. Die Verwunderung der Sowjets hierüber kam in einem Artikel der Parteizeitung Istwestija am 12. Juni 1989 zum Ausdruck: „Bekanntlich erklärt die Bundesregierung die deutsche Frage als offen; jedoch wird das, wie man uns vertraulichversichert hat, mehr zur Besänftigung der Rechten getan… Man solle sich nicht fest bei der Variante des vereinigten Deutschland verkeilen, sondern andere Wege suchen.“
Helmut Kohl ist nicht der Kanzler der Einheit. An ihr haben andere Personen und Mächte entscheidend mitgewirkt: Die Konsequenz eines Ronald Reagan; die Einsichtsfähigkeit und der Friedenswille eines Michael Gorbatschow; und der Mut der Menschen in der DDR, die durch ihren Drang nach ideeller und materieller Freiheit den nötigen Druck erzeugten, um die Einheit in Freiheit zu vollenden. Letztere sind für mich die eigentlichen Helden, denn sie haben in Leipzig und anderswo ihr Leben eingesetzt.