In Gedenken an meinen Opa Anton Roscher (1888-1956)

Geschichten aus Schmiedeberg
Mein Opa: Anton Roscher

Mein Opa wurde als zweites von 10 Kindern am 19. November 1888 im böhmischen Schmiedeberg, nur wenige Kilometer von der sächsischen Grenze bei Oberwiesenthal, geboren. Sein Vater, der wie er den Namen Anton trug, war ehrbarer Fuhrwerksbesitzer, wie überhaupt zahlreiche Mitglieder der seit vielen Jahrhunderten auf diesem Flecken lebenden Familie Roscher mit Pferden zu tun hatten.

Im November 1888 hatte das Deutsche Reich innerhalb weniger Monate bereits zwei Kaiser durch Tod verloren: Zunächst den seit 1871 regierenden Wilhelm I., dann, nur 99 Tage später, auch dessen kränkelnden Sohn Friedrich III.. Seit fünf Monaten hieß der Regent im Deutschen Reich Kaiser Wilhem II..
Schmiedeberg, obwohl nahezu ausschließlich von Deutschen bewohnt, war jedoch nicht Teil des Deutschen Reichs, sondern gehörte zur K.u.K. Monarchie Österreich-Ungarns. Da die Interessen Preußens und Österreichs nicht in einem deutschen Staat zu vereinbaren waren, konnte Bismarcks Reichsgründung im Jahre 1871 nur die kleindeutsche Lösung umfassen, weshalb sich die Deutschen im Österreichischen Staatenverband außerhalb des Deutschen Reichs befanden. Nachdem die österreichische Dynastie der Habsburger bis 1806 mehr als 500 Jahre nahezu ununterbrochen die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation trug, ging man nunmehr getrennte Wege. So erging es dann auch den Deutschböhmen im Erzgebirge, die fortan dem österreichischen Kaiser Franz Josef unterstellt waren.

Ich weiß nicht viel über meinen Opa. Er verstarb lange vor meiner Geburt bereits im Jahre 1956. Mein Vater erzählte nicht allzu viel von ihm, warum auch immer. Den Zugang zu meinem Opa bekam ich erst viel später.

Ich wusste, dass Opa Anton wie alle jungen Männer seiner Generation im August 1914 in den 1. Weltkrieg zog. Als Soldat des österreichischen Heeres zog er als Bundesgenosse des Deutschen Reichs an die Ostfront, um tief in das von Zar Nikolaus II. geführte Russische Reich einzudringen.

Irgendwann in dieser Zeit, möglicherweise bei einem Fronturlaub in der Heimat, muss mein Opa eine junge nette Dame aus dem westfälischen Bad Oeynhausen kennen und lieben gelernt haben. Die junge Johanna Rehlmeyer war im Gegensatz zu der seit dem 30jährigen Krieg stets katholischen Familie Roscher von evangelischer Konfession. In der damaligen Zeit muss dieser feine Unterschied ein erhebliches Problem dargestellt haben. Dies wird daran deutlich, dass sich die evangelischen Linien der Familie Roscher, die nur wenige Kilometer von den katholischen Linien der Familie auf böhmischer Seite entfernt liegen, mit diesen niemals gekreuzt haben. Heute würde man sagen, dass solche Mischehen ein absolutes “no go” waren. Und dennoch: Am 15. Mai 1915 heiratete mein Opa seine Liebste. Und zwar nicht im katholischen Schmiedeberg, sondern im benachbarten sächsischen Städtchen Bärenstein. Und das schlimmste: Er heiratete dort evangelisch und nahm auch den evangelischen Glauben an. Es muss eine wahre Liebeshochzeit gewesen sein, denn diese Ehe konnte als Affront gegen die katholische Herkunft meines Opas in seinem Heimatort Schmiedeberg verstanden werden. So war es auch nicht verwunderlich, dass das Ehepaar später in die Heimat meiner Großmutter nach Westfalen zog.
Doch zunächst hieß es für meinen Opa, zurück in den Krieg gehen zu müssen, was für meine Großmutter, wie für viele Ehefrauen von Soldaten, ein schreckliches Warten bedeutete.
Noch ohne wenigstens in freudiger Erwartung zu sein, musste sie dann 1916 erfahren, dass ihr Mann in russische Gefangenschaft geraten war. Eine quälende Zeit des Wartens begann, die sie schließlich mit stetem Kirchgang verband und sie zu einer streng gläubigen Teilnehmerin eines Kirchenkreises machte. 
Von meinem Opa war jahrelang nichts zu hören. Er wurde, wie viele deutsche Soldaten, zur Zwangsarbeit nach Sibirien verbracht. Letztendlich verschlug es ihn nach Irkutsk an den Fluß Angara und nur unweit vom Baikalsee. In dieser mittelsibirischen Stadt war schon deutlich die Nähe Asiens zu spüren. Kein schlechter Ort für Menschen, die sich mit Pferden auskannten. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass es dort mehr zu Essen gab, als in der von Hungersnöten geplagten Heimat. Das Verhältnis der russischen Bevölkerung zu den gefangenen deutschen Soldaten muss auch nicht das schlechteste gewesen sein. In Russland herrschten damals komplizierte Verhältnisse, denn der Zar musste 1917 abdanken und es kam zu einem von den Deutschen aufgezwungenen Separatfrieden von Brest-Litowsk. Im Grunde hatte man den Krieg gegen Deutschland sowie den Glauben an den Zaren verloren und befand sich in einer wirren Übergangszeit, auch wenn dies im fernen Irkutsk nicht ganz so drastisch zu spüren gewesen sein mag.
In dieser Zeit war mein Opa in Irkutsk und es sollte neun lange Jahre dauern, bis er seine Heimat im Jahr 1925 wiedersah. Neun Jahre musste seine Frau Johanna, die inzwischen bereits 35 Jahre alte war, auf die Rückkehr ihres Mannes aus russischer Gefangenschaft warten.

Im Jahr 2011 reiste ich zusammen mit meiner mir frisch angetrauten Ehefrau in östlicher Richtung um den Globus und machte dabei einen Halt am Baikalsee und natürlich auch einen Besuch in Irkutsk. Die wunderschöne Landschaft, doch auch die Geschichte meines Großvaters hatten mich magisch angezogen. Beim Besuch einiger Dekabristengräber in der Stadt kam ich mit der gebildeten russischen Reiseführerin auch ins Plaudern über meinen Opa und dessen Schicksal in Sibirien. “Wie lange war Ihr Opa hier? 9 Jahre? Merkwürdig!” Auch mir wurde jetzt bewusst, dass es mit dem deutsch-russischen Separatfriedensvertrag im Jahre 1918 eigentlich jedem deutschen Soldaten möglich war, wieder in seine Heimat zurück zu kehren. Warum hat Anton Roscher hier noch weitere 7 Jahre verbracht? Was hielt ihn davon ab, zu seiner sehnsüchtig wartenden Ehefrau heimzukehren?
Vielleicht tat ich meinem Großvater in diesen Tagen Unrecht: Aber plötzlich begann ich in den Gesichtern vieler Irkutsker nach Ähnlichkeiten zu suchen. Hatte sich mein Opa in Rußland verliebt? Sicherlich war das Leben hier nicht schlechter als in der hungernden Heimat. Aber würde er deswegen seine Frau solange warten lassen? Dieses Geheimnis werde ich wohl nicht mehr lüften können. Möglicherweise ist es auch gut so, dass hierüber nie gesprochen wurde. Jedenfalls habe ich nie etwas Genaues dazu erfahren.

Für meine Großmutter war es ihr größter Lebenswunsch, ihre Arme wieder um ihren Mann schließen zu können. Sie hatte auch dafür gebetet, mit ihm eines Tages Kinder zu haben, was in ihrem Alter als Erstgebärende zur damaligen Zeit jedoch äußerst schwer gewesen sein mag. Ihre Gebete wurden aber erhört und am 20. Juni 1926, nach nur einem Jahr der Rückkehr meines Opas, wurde in Bad Oeynhausen ihr Sohn Helmut Walter Anton Roscher, mein Vater, geboren.
Mein Großvater blieb zusammen mit meiner Oma in Bad Oeynhausen und kehrte nicht mehr nach Schmiedeberg, das inzwischen als Sudetenland Teil der neu gegründeten Tschechoslowakei geworden war, zurück. Er war ein fleißiger, gottesfürchtiger Mann und wurde noch vor Ausbruch des 2. Weltkrieges Schlachthofaufseher, ein für die ganze Familie nicht abschätzbarer Segen. Er war stets ein Patriot, der seine Heimat und seinen Kaiser verehrte, nicht jedoch einen lautstarken Krakeeler, dem er nicht abnahm, wirklich für den Frieden zu sein. Den Kauf einer Ausgabe des Buches von “Mein Kampf” lehnte er deshalb mit sehr deutlichen Worten ab, was der Staatsmacht bzw. für diese hörende Ohren nicht verborgen blieb. Erst mit Hilfe von zwei SS-Männern, die eines Tages an der Haustür meines Opas auftauchten, konnte sich Anton Roscher zum Kauf einer Ausgabe des Führer-Elaborats entscheiden.
Im Jahr 1944 musste mein Opa, der vom Krieg die Nase voll hatte, mit ansehen, wie auch sein 18jähriger Sohn Helmut in die Wehrmacht eingezogen wurde, um am Ende schwerverletzt, mit einem verlorenen Auge, und gezeichnet mit schrecklichen Erinnerungen, dann doch wieder zurückkehrte. Den Verlust seiner sudetendeutschen Heimat und die dortigen gewaltsamen Vertreibungen hatte mein Großvater durch seinen frühen Weggang wenigstens nicht miterleben müssen. 

In der neuen Heimat Westfalen ging es langsam wieder voran. Mein Opa erlebte 1949 wieder einmal eine Währungsreform und den steten Aufstieg der Bundesrepublik. Im trauten Kreise der Familie freute man sich schließlich über den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954. Mein Vater konnte nach dem Notabitur und erfolgreichem Architekturstudium die Liebe zu seinen Eltern und auch zu seinem Vater darin ausdrücken, dass er ihnen ein Haus baute. Nur kurz nach dessen Fertigstellung verstarb mein Großvater Anton Roscher am 17.09.1956 friedlich in seinem Haus in Bad Oeynhausen.

Nachtrag: Zu ihm und seiner Frau legte sich am 22.08.1997 schließlich auch mein Vater. Für ihn war es nicht nur wichtig im Familiengrab neben seinen Eltern zu liegen, sondern vor allem auch in der Nähe seiner im Krieg gefallenen Schulkameraden, deren Tod er sein ganzes Leben nicht verwinden konnte.